Exkurs III: Das Erdbeben von 1988

Leninakan 1988, es ist der 7. Dezember. In der zweitgrößten Stadt Armeniens ist es bitterkalt, in den Schulen wartet man auf die große Pause. Kurz vor zwölf gerät die armenische Stadt – die heute wieder Gjumri heißt – komplett und für lange Zeit, wenn nicht sogar für immer aus den Fugen. Die Erde bebt. 25.000 Menschen sterben entweder durch herabstürzende Trümmer oder sie erfrieren, über eine Million Menschen sind von einer Minute auf die andere obdachlos. Das Beben traf nicht nur das ehemaligen Gjumri/Leninakan, vormals Alexandropol, auch im benachbaren Spitak und in Vanadsor hinterließ es Verzweiflung und Traumata.

Wellblech, Holz und Pappe – Wie soll man da durch den Nordarmenischen Winter kommen?

Spitak wurde komplett ausgelöscht und der Ort an anderer Stelle neu aufgebaut. Vanadsor hatte als unbeliebter Industriestandort ohnehin wenig Glück bei der Findung einer eigenen Identität in der postsowjetischen Phase – und so kam es der Hauptstadt der Provinz Shirak zu, die Erinnerung an das Beben in die Geschichtsbücher zu schreiben.

Mir hat das Erdbeben von Gjumri nichts gesagt, obwohl ich solche Nachrichten-Meldungen eigentlich nicht vergesse und sicher abspeichern kann. Aber wir waren grad frisch Eltern geworden, wahrscheinlich hat Janes gerade mal wieder geschrien und ein zweites Mal hat die Tagesschau wohl nicht berichtet.

Wir fahren zufällig und unvorbereitet durch Gjumri. Die Stadt gibt uns nicht viel. Eben eine typische armenische Stadt, aber auf den zweiten Blick hätten wir merken müssen: Hier ist etwas anders, aufgeräumter. Nicht ohne Grund: 1988, also gerade mal 30 Jahre her, ist hier kein Stein auf dem anderen geblieben in einer Zeit, in der die Sowjetunion den letzten Zügen lag. Mit brutalen Schlägen pulveriesierte die Natur eine ganze Region.

Die Sowjetrepublik Armenien brauchte Hilfe und sie wurde dank des Krisenmanagements des charismatischen Michail Gorbatschow auch international gewährt – selbst das verhasste Azerbeidjan ließ die Konflikte ruhen und schickte Hilfstrupps.

All das wussten wir noch nicht. Wir übernachten und haben eine friedvolle Nacht. Es ist kalt im Norden Armeniens im Winter 2019. – genauso kalt wie im Dezember1988. Am Morgen wollen wir uns die Stadt ansehen. Aber: Das Auto springt nicht an. Etliche Armenier kommen mit gutem Rat, aber der einzige, der uns wirklich helfen kann, ist Heros, der mit seinem uralten Lada mit verblichenem Taxischild auf dem Dach anhält. Ihm ist gleich klar, dass Starthilfe hier nichts bringt und bietet mir an, meine Batterie zuhause aufzuladen.

Es ist wirklich ungemütlich kalt und wir nehmen die Einladung mitzukommen und bei ihm zu warten, dankbar an. 5 Minuten später stehen wir vor einem Bretterverschlag inmitten von ausgeschlachteten deutschen Autos, kaputten Kühlschränken. Die Szene ist nicht real, denn Heros und sein Sohn Arman sind feine Menschen – kultiviert, gepflegt, gastfreundlich. Warum wohnen sie in einem solchen Verschlag?

Wir erfahren, dass die kleine Familie auf dem eigenen Land lebt und hier ein schönes großes Haus gestanden hat – bis zum 7. Dezember 1988. Danach war nichts mehr wie es war und es wurde auch nicht mehr. Zumindest für Heros nicht.

Die Sprachbarriere verhindert, dass er uns mehr erklärt, als er uns mit Händen und Füßen sagen kann, aber die Szenerie spricht für sich. Auch 30 Jahre nach dem Erdbeben wohnt Heros mit seiner Frau und seinem geschiedenen Sohn in einem Häuschen aus Brettern, Pappe und Metallplatten zwischen Heiligenbildern und Schränken voller Kram – dazwischen ein dicker Wälzer mit Zeitungsartikeln.

Ich möchte nicht wissen, wie das da im Winter ist und frage mich, ob er versucht hat, seine Probleme zu lösen. Ich denke ja, aber vielleicht war es alles zu viel, vielleicht hat er irgendwann aufgegeben. Man weiß es nicht. Wenn ich die teuren Autos im Zentrum sehe denke ich, dass andere es geschafft haben – aber auch das die reine Mutmaßung. Vielleicht sind das die Leute, die am Wiederaufbau verdient haben. Aber die schicken Frauen im Cafe Herbes & Onions haben mit Heros so wenig zu tun. Es liegen nur wenige Kilometer zwischen dem quirligen Stadtzentrum und der Barackensiedlung. Was macht er falsch, was machen sie richtig? Die alte Frage zur Existenz von Armut beantwortet sich hier nicht.

Ich muss die Tränen unterdrücken, so rührt mich diese Szene. Arman bietet uns trockenes Brot und etwas armenischen Käse an. Ich bin sicher: Es ist nichts anderes im Schlank, sonst hätte er es uns angeboten und der Teebeutel muss für 4 Tassen reichen.

Irgendwann ist die Batterie voll, unser Auto springt an und wir müssen uns verabschieden. Wir versuchen uns mit 20.000 Dram erkenntlich zu zeigen, das sind über 40 Euro und in Armenien ein Haufen Geld, sicher mehr als Heros in der Woche mit seinem klapprigen Taxi verdient und weniger, als wir pro Tag ausgeben in Armenien

 Heros weigert sich, das Geld anzunehmen, aber sein Sohn denkt einen Schritt weiter und steckt die Scheine dankbar ein. Vielleicht kauft er seinen Kindern etwas, die bei seiner Frau in Jerevan leben.

Für mich hat dieser sonnige Tag allen Glanz verloren. Ich weiß nicht, wie ich dem alten Mann und seinem tieftraurigen Sohn helfen kann. Ich kann nicht die ganze Welt retten. Ich kann aber auch nicht durch Gjurmi fahren und so tun, als wäre das Erdbeben 1988 nicht mehr als eine schaurig-schöne Erinnerung  und eine Notiz im Urlaubstagebuch.

Begegnungen wie diese stellen mir die Frage nach dem Sinn des Lebens aber sie beantworten mir nichts.

Ich bin ratlos. Ich habe seine Telefonnummer und werde versuchen, die Adresse zu bekommen. Und dann? Geld schicken?

Ich weiß es nicht. Ob ich besser nicht in den Norden Armeniens nach Gjumri gefahren wäre? Für mich gibt es da keine Alternative, denn unsere Wege sind vorgegeben, und für mein Unwohlsein kann Heros nichts. Er hat sich nicht aufgedrängt oder um Aufmerksamkeit gebeten. Das muss ich mit mir selbst ausmachen.

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