Aussteigen für Anfänger

Vielleicht ist es noch nicht zu spät” sagt Basil in “Alexis Sorbas” und meint den Zeitpunkt, das Geistige/Geistliche mit dem Weltlichen in Einklang zu bringen und sich “von einer grundlosen Angst zu befreien und von jetzt ab und für immer  in einen nüchternen und warmen Kontakt mit den Menschen zu kommen!”

Es gibt einen Punkt im Leben, an dem das Weltliche dominiert. Man wird sich dessen schmerzlich bewusst und erträgt es nicht mehr. Ein Menschenleben steuert auf diesen Punkt hin, denn Ausbildung Karriere, Kindererziehung und Vergreisung sind eng getaktet. Ein Wimpernschlag der Zeit und es ist zu Ende – oder schlimmer noch fast zu Ende und man steht vor den Trümmern eines nicht wirklich erfüllten Lebens.

Meine Wünsche nach Spiritualität und die Sehnsucht nach aufklärenden Erkenntnissen blieben unerfüllt. Die Angst davor, dass sich daran von allein nichts ändert, trifft einen entweder mit einmaliger Wucht oder sorgt über die Zeit unbewusst für ein unerträgliches Unbehagen. Ein Burn Out steht auch für emotionale und kognitive Unterversorgung.

Ängste bestimmen das Leben und auch die Zukunft. Wer Angst hat und damit nicht umgehen kann, wird nicht losgehen. Muss er auch nicht. Niemand muss losgehen, aber was schadet es zu prüfen, ob es geht?

“Ich habe keine Angst, dass etwas passiert, wenn ich gehe. Ich habe viel mehr Angst davor, dass nichts passieren würde, wenn ich bliebe!”

Wer sein Leben ändern möchte, der kann es tun wann und wie er das möchte. Es braucht einen Anlass, den Willen und die Fähigkeit. Oftmals ist der Ausstieg Ergebnis einer Analyse, für deren Klarheit und Gültigkeit man nicht immer ganz alleine sorgen kann. Oftmals gibt es Auslöser, auf die man reagieren möchte. In jedem Fall braucht man jemanden, mit dem man reden kann, einen Überblick über die eigenen Ressourcen und das persönliche Bedürfnis, wirklich etwas ändern zu wollen.

In meinem Fall reifte die Idee, den Strich zu ziehen, einerseits durch sehr viele Erfahrungen, die Inspirationen durch meine Kinder und den vielen Anregungen und Anstöße durch meine Frau, die ich auf dem Weg zum Glauben, zu einer Supervisionsausbildung und zu ihrem mutigen Ausstieg aus ihrem Job sehr aktiv begleiten durfte.

Nötig wurde mein ganz persönlicher Ausstieg, weil das Gefühl für die “Innere Uhr” plötzlich Alarm schlug und ich mir bewusst wird, dass jetzt oder nie etwas geschehen muss, um meinem Leben noch einmal eine Wendung zu geben.

Ich war sehr unzufrieden mit dem Grad von Spiritualität und Metaphysik in meinem Leben und darüber, dass ich mich mit vielen sehr unwichtigen Sachen befassen musste, statt konstruktiv an mir selbst arbeiten zu können. Ich habe mich in den letzten Jahren mehr um meinen Garten gekümmert als um mein Seelenheil.

Mein Erlebnishunger blieb lange unbefriedigt, der Mann entmannt sich selbst und wird zum Versorger. Aussteigergeschichten drehen sich in ihrer Entstehung immer um dieses Unwohlsein, weil Dinge aus den Fugen geraten sind und man es nicht mehr aushalten möchte wie es ist.

Wenn Paare aussteigen hinterfragen sie den Wert einer Beziehung und erkennen einen vollständigen Lebenswandel eher als Rettungsanker denn als Prüfung. In unserem Fall gab es wenig Probleme in der Zweisamkeit. Wir haben auch nie darüber nachgedacht, ob wir es schaffen oder nicht.

Was ist los wenn’s losgeht? Oft ist es ein von allem Zuviel: Zu viel Arbeit, zu viel Internet, zu viel Streit, zu viele Sorgen, zu viel Freizeit und ein Lähmendes von vielem zu wenig: Zu wenig Zeit, zu wenig Erkenntnisgewinn und viel zu wenig Ewigkeitswert.

Mein Wille, etwas zu verändern brach mit jedem Buch, das ich las, sich etwas breiter Bahn. Und mit jedem Tag, der keine Veränderung brachte und mich nur tiefer in die ungeliebten Systeme hineinbohrte, wurde klar, das sich etwas ändern musste und klar, dass es nicht einfacher werden würde.

Wer über einen Ausstieg nachdenkt hat  90 % von dem was zu tun ist, schon geschafft. Wer darüber nachdenkt auf eine rationelle, sich selbst liebende und die Zukunft bejahende Art, für den ist der Rest nur noch Organisation.

Der Ausstieg für eine begrenzte Zeit lässt die Rückkehr in das alte Leben zu, das vielleicht so schlecht gar nicht mal ist, wenn man nur ein paar Parameter ändert und dabei bereit ist für massive Paradigmenwechsel.

Schlimmer wird es nicht

Ich möchte mich in diesem Vorwort  mir der Entscheidungsfindung befassen sondern damit, welche Gedanken einen umtreiben, nachdem die Entscheidung getroffen ist.

Hier ein Auszug aus einem Tagebucheintrag, der es gut trifft, geschrieben im Januar 2018, drei Monate vor unserem Aufbruch:

“In meinem Hirn rumoren derzeit zwei Prozesse, die ich nicht steuern kann und meine bisherige Taktik zur Krisenbewältigung funktioniert nicht mehr. „Einfach mal was wegarbeiten!“ hat in der Vergangenheit immer funktioniert. Da konnte sich gegen mich verschwören was will, irgendwann hatte ich den jeweiligen Berg der Probleme abgearbeitet und in machbare Schritte portioniert. Aus Sorgen wurden Aufgaben.

Derzeit bin ich weit davon entfernt, einen Überblick über die Machbarkeit meiner Schritte für den nächsten Tag zu haben und mein Tinnitus kreischt die Begleitmusik.

Prozess 1

In meinem Kopf geht ein riesiges Tetris-Spiel ab. Die Blöcke kommen relativ langsam von der Decke herab, aber sie kommen unablässig – noch krieg ich das hin, aber ich merke, dass die Geschwindigkeit zunimmt und das Spiel mir derzeit keine Pause gönnt.

Prozess 2

Wenn ich zur Ruhe kommen möchte eröffnet sich ein zweites Spiel: Jump `n Run in feinster Super-Mario-Manier. Ich hüpfe von einer schwimmenden Schildkröte zur anderen und mit jedem Schritt entfernt sich das Ziel weiter, während unlösbare Aufgaben die Wege versperren.

Im Schlaf kommen die beiden Bilder zusammen und ich träume wie immer in schwierigen Situationen meine „Ich kann das nicht rechtzeitig schaffen-Träume“, in denen ich stets wichtige Verabredungen versäume, weil auf dem Weg immer was Unvermeidliches schiefgeht (übrigens, diese Träume hab ich vom Tag der Abreise an nicht mehr gehabt).

Derzeit raubt ein Klavier mir den Schlaf: Es ist Dienstagfrüh und am Donnerstagabend kommen meine Freunde, um das Klavier meines Sohnes in einen Lieferwagen zu verfrachten und auf den Weg nach Berlin zu bringen. Es hat hier fast 20 Jahre gestanden ohne mehr Probleme zu machen als Staub anzuziehen und ab und an schier unerträglichen Lärm zu machen.

Ein zu transportierendes Klavier gehört derzeit zu den Aufgaben, die mir in der Organisation der Teilschritte und der Notwendigkeit, die erforderlichen Abläufe zu optimieren, arge Probleme bereiten. Und es ist nur ein Klavier. Da gibt es ganz andere Sachen…

Nebenbei wickele ich gerade einen Hausverkauf ab, ordne meine Selbständigkeit für ein Leben als „Digitaler Nomade“ neu und versuche die Unmöglichkeit zu meistern, 12 Monate ohne festen Wohnsitz sein zu können. Meine Kinder würden mir raten: „Geh meditieren!“ Gut, die Zeit hab ich grad nicht und ich bereue, die zur Stressbewältigung notwendigen Techniken mir nicht beizeiten angeeignet zu haben – aber es ist wie es ist. Wenn Schweine fliegen könnten – können sie aber nicht.

Was da los ist? In der Analyse dieser Sachen, die mich derzeit schlaflos machen, ist es die nicht zu meisternde Vielzahl von Dingen, die zu erledigen sind, bevor es am 1. April auf die große Reise geht.

Da hülfe mir nun auch die Meditation wenig, denn wenn ich mich jetzt nicht um die Impfung für meinen Hund kümmere, komme ich eventuell in sechs Monaten nicht wieder aus Marokko heraus und strande dort für ein trostloses Nomadenleben in irgendeiner Sandwüste, deren Ausgang zu finden es wieder einen Plan braucht…ein Problem bedingt das nächste. Es scheint ein ewiger Kreislauf, dem ich nur entrinnen kann, wenn ich mich wieder in den Ameisenhausen zurückziehe, der mein altes Leben ist.

Liebeskummer, Zeugnisstress, Unfallfolgen – egal was meine Kinder in vergangenen Zeiten traumatisierte: Mein „Was auch passiert, morgen früh geht die Sonne wieder auf!“ kann mich derzeit nicht selbst motivieren – also verfalle ich wieder in mein altes Muster und arbeite Dinge weg. Es ist 5 Uhr in der Früh, und ich habe den ersten Beitrag für mein Lebenswerk „Aussteigen für ein Jahr“  – wie vorliegend – fertiggestellt.

Es ist zwar noch nicht mehr als das hilflose Gestammel einer ewigen Dramaqueen, aber es ist ein Tetris-Block, der gut einsortiert wurde und eine weitere Schildkröte, die ich hinter mir lasse . Go Mario, go!

Grad hab ich eine Idee für ein Logo: es wird ein stilisierter Papageientaucher sein – ein Vogel, der die Welt beherrschen könnte, wären nur seine Fähigkeiten ein wenig anerkannter und sein Flugstil etwas majestätischer.

Eben noch eine Mail an Janes, der ist Künstler und kann sowas und immerhin ist es sein Klavier – und da sind sie wieder, meine kleinen Schritte…”

Soweit mein Lieblingstext aus der “Vorbereitungsphase”. 7 Wochen später sind wir aufgebrochen. Immer wenn ich diesen Text lese werde ich mir bewusst, wie schlecht und undefiniert es mir damals ging, und wie schwierig es doch war, den Ausstieg zu planen und umzusetzen und such dabei ein gutes Gefühl zu bewahren. Es erinnert mich daran, dass das schon Grenzerfahrungen waren, selbst wenn ich noch keinen Fuß vor die Tür gesetzt hatte.

Heute ist der 17. August 2019. Wir sind seit dem 1. April unterwegs. Ich sitze im Restaurant eines türkischen Hotels an der Schwarzmeerküste und entscheide, dass wir langsam genug erlebt haben, um ein Buch zu schreiben. Wenn ich heute auf die Zeit vor unserem Aufbruch zurückblicke kommt mir vieles surreal vor – weil wirklich nichts so gekommen ist, wie wir es geplant haben und wir ganz andere Dinge erleben dürfen, als wir erwartet haben.

Darf ich ein paar Fragen stellen, damit wir uns kennenlernen?

Wer bin ich überhaupt?

Früher hätte ich mich als Mischwesen betrachtet: Journalist, Suchmaschinenoptimierer, Hausbesitzer, ewig Suchender und die Wahrheit nicht sehen Wollender. Heute bin ich immer noch ein Mischwesen, allerdings zusammengesetzt aus ganz anderen Komponenten. Aussteiger war ich für ein paar Tage, bis ich mein altes Leben nicht mehr vermisst habe. Digitaler Nomade bin ich, weil ich das Glück habe, auf Reisen arbeiten zu können.

Ein Wort traf es zu Begnn der Reise gut: ich war ein Overlander. Definition: Ein Overlander ist ein Mensch, der auf der Suche nach sich und wichtigen Erkenntnissen selbst fremde Länder bereist und dabei nach Möglichkeit auf jegliche Massentransportmittel verzichtet und mit einem Fahrzeug „über Land“ von einem Ort zum anderen reist. Overlander scheuen keine Entfernungen und für Overlander sind die Erfahrungen, die man rechts und links der Straße macht, das Wichtigste im Leben. Overlander wollen sich weder erholen noch ihre Ruhe. Ein Ort wird nicht nach der Sauberkeit der Toilette bewertet, sondern nach der Fülle an Erkenntnisgewinn und Ewigkeitswert. Overlander erkaufen sich nichts, sondern erarbeiten es sich. Wer andere Overlander trifft hört oft: „Ich reise, um meine Vorurteile abzubauen! Meine Reise ist beendet, wenn ich alles mit eigenen Augen gesehen habe!“

Allerdings: Ich habe echte Overlander kennenlernen dürfen und so wie sie möchte ich nicht leben. Mir reicht inzwischen mein kleiner Ausbruch und ich freue mich auf mein neues altes Leben, in dem auch wieder Raum für andere Dinge ist.

Für wen schreibe ich dieses Buch?

Als ich mich von meinen Freunden verabschiedet habe kam heraus, dass viele von ihnen auch gehen möchten. Aber es geht halt nicht. Dieses Buch ist für alle, die glauben, es geht nicht. Es geht, man muss nur wissen, ob es Sinn macht, die Komfortzone zu verlassen und sich auf Abenteuer einzulassen. Wohlgemerkt: ich will hier keinen überzeugen zu gehen. Aber wer gehen will, der möge hier ein paar Anregungen finden.

nMir war wichtig, mir neue Perspektiven zu erarbeiten und offen zu werden für alternative Erkenntnisse. Mein mentaler Werkzeugkasten hat sich enorm erweitert, ich bin offener geworden, aufnahmefähiger und einfacher im Kontakt mit Menschen. Und ich habe gelernt, dass es immer eine Geschichte hinter der Wahrheit gibt.

Ob das immer gut geht?

Ich meine ja, weil alles besser ist, als in Unzufriedenheit zu verharren und das Ende abzuwarten.

Wer also noch den letzten Klapps braucht, ich würde ihn gerne geben. Wer sein Haus verkauft und sich auf den Weg macht ist wie „Hans im Glück“. Erst als der Stein, den er gegen die  Gans eingetauscht hat, in den Brunnen gefallen ist, fühlt er sich befreit. So erging es mir. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, den Schlüssel für ein Haus abzugeben und zu denken: „Jetzt mäh du doch den Scheiß-Rasen!“

Und gibt es ein Risiko?

Ja natürlich. Ich habe es am eigenen Leib erfahren. Wir hatten einen schweren Verkehrsunfall im trostlosesten Anatolien – aber sowas kann einem auch in der Komfortzone passieren. Ich möchte nicht der sein, der andere ins Unglück lockt. Lasst euch beraten, redet mit euren Freunden, probiert es aus und entscheidet dann. Ein Risiko gibt es immer – überall auf der Welt und immer dann besonders, wenn man die Komfortzone verlässt. Auch habe ich Erkenntnisse herausposaunt, die sich später als falsch erwiesen haben. Auch das passiert wenn man denkt, der Weisheit ganz nah zu sein.

Und Probleme?

Ein Problem ist, dass man ab und an eine Art Heimweh spürt. Man kann nicht über Wochen – wie wir in der Türkei – als Außenseiter unterwegs sein, ohne dass man das Bedürfnis verspürt, irgendwo „anzudocken“. Ich glaube daher auch nicht, dass es ein gutes Modell ist, z.B. nach Thailand an den schönsten Strand der Welt zu fahren, um auszusteigen. Ich glaube, das kann für mich nicht funktionieren. Bei Overlandern – wenn auch nur auf Zeit – ist es anders, weil die sich nach  jedem Abschied auf ein neues Willkommen freuen – was meistens auch klappt.

Dieses Buch ist gegliedert in Vorbereitungsphase und Reiseblog. Parallel dazu gibt es Geschichten über Erlebnisse entlang der Route und Berichte über Menschen und Projekte, die uns fasziniert haben.

Von Warstein über den Kaukasus in die Sahara